Der Fuchs, der kein Fuchs mehr sein wollte
Der mindestens drei Jahre gereifte Fuchs wollte kein Fuchs mehr sein. Gerade knabberte er an einem Mäuseknöchelchen, lag dabei völlig untypisch auf dem Rücken, ließ sich die Sonne auf den Pelz brennen und sah dem ewigen Spiel der Wolken am Himmel zu.
"Eigentlich habe ich im Leben nichts erreicht", dachte er bei sich. "Seit meiner Geburt bin ich Fuchs, seit meiner Geburt tue ich nichts anderes als Mäusen aufzulauern, hin und wieder mal ein Kitz zu reißen oder vor den verfluchten Jägern zu türmen. Und mit meinem Mitbewohnerdachs kriege ich mich manchmal auch in die Köppe. In meinem Leben tut sich nichts; es geht einfach nicht voran, Stillstand ist Rückschritt."
Dacht's und nahm sich vor, dass ab heute alles anders würde.
Als er einen Bussard seine suchenden Kreise am Himmel ziehen sah, wurde ihm zum ersten Mal in seinem Leben die schlichte Eleganz des Vogelfluges so richtig bewusst.
"Wie leicht und unbeschwert das Leben eines Vogels, der sich von der warmen Thermik tragen lässt, überlegenen Auges seine Beute erspäht, sich einfach fallen lässt in die weichen Kissen der Lüfte, so voller Eleganz und Anmut.
Viel besser, als durch den Dreck zu krauchen und sich bei der Jagd zu verausgaben."
So beschloss er, von nun an ein Vogel zu sein.
Er suchte sich einen langen, schmalen Ast, biss kleine Zweige ab, bis er eine leichte, lange Stange erhielt, die er bequem im Fang halten konnte. Dann nagte er mit den Zähnen winzige Löcher in den Ast, in die er unter Bäumen gefundene Taubenfedern verkeilte und so einen mächtigen Flügel entstehen ließ.
Am nächsten Morgen schnürte er zum Steinbruch hinauf, fasste seinen Flügel fest mit den Zähnen, nahm Anlauf, stieß sich kraftvoll von der Hangkante ab, spürte eine halbe Sekunde lang die unendliche Freiheit des Fluges, als ihm der kalte Fahrtwind in die Lichter stach und er im nächsten Moment mit Wucht auf den steinigen Boden prallte. Benommen blieb er liegen, die Federn seines Flügels lösten sich von dem zerschmetterten Ast und trieben über ihn hinweg, ein paar Lachmöwen verhöhnten ihn aus luftiger Höhe.
Schwer angeschlagen schleppte er sich zu seinem Bau zurück und leckte sich die Wunden, gut zwei Wochen lang war er krank - und hätte ihm der alte, brummelige Dachs nicht hin und wieder eine Maus mitgebracht, wäre er wohl elendig verhungert.
Als er wieder zu Kräften gekommen war, beobachtete er die Rehe auf der Wiese am Waldrand. Große, schöne Tiere, die sich elegant bewegten, sogar wenn sie flüchteten.
Wie leicht und unbeschwert das Leben eines Rehs, das nicht stundenlang in absoluter Langeweile auf seine Beute lauern muss, sondern einfach in der Dämmerung auf die Wiesen zieht und nur das Beste bekommt, indem es schlichtweg nur sein Haupt neigt.
So beschloss er, von nun an ein Reh zu sein.
An seiner Balgfarbe, die nun seine Deckenfarbe war, musste er nichts verändern; sein Rotbraun passte gut zu einem Reh. Zwar war er etwas kleiner, aber das waren Kitze schließlich auch.
Am Abend zog er zu seinen neuen Freunden auf die Wiese. Aber seine neuen Freunde wollten nichts mit ihm zu tun haben, sorgten sich um ihren Nachwuchs und mieden ihn. Ein alter Bock griff ihn sogar an; unglaublich!
Also suchte er sich eine andere Wiese, stapfte langbeinig durch das Gras und äste Grünzeug, das fürchterlich schmeckte. In der Nacht bekam er Durchfall und solche Bauchkrämpfe, dass es sogar dem Dachs auffiel. "Mein lieber Fuchs, was hast du bloß gefressen? Du hast dir wohl komplett den Magen verdorben, etwas völlig Ungeeignetes gegessen." Ich bin ein Reh !", bellte der Fuchs, "Und ich esse, was mir gut tut!"
"Dann iss wieder Fleisch", brummte der Dachs. "Wenns hier morgen wieder so müffelt wie heute, fliegst du aus dem Bau!" - Zu gerne wäre der Fuchs dem Dachs an die Kehle gesprungen, aber das taten Rehe ja nicht.
Am nächsten Morgen zog er im Morgenlicht wieder auf die taufrische Wiese, obwohl ihm gehörig mulmig dabei wurde. Früher war er geschlichen, hatte sich verborgen, war fast nie so offen durch die Gegend getappt; jedefalls nicht um diese Zeit, zu der es meist vor Jägern wimmelte. Er äugte misstrauisch zum alten Hochsitz hinüber, schaute genau hin. Tatsächlich! Da war einer der verhassten Grünröcke, völlig unbewegt, aber das Gewehr schon im Anschlag!
Er flüchtete in wilden Sätzen, hörte den Schuss hinter sich donnern, spürte, wie die Kugel Erdreich und Steinchen hinter ihm aus dem Boden fetzte, als er endlich den rettenden Waldrand erreichte. Als Reh hätte er den Jäger nicht gesehen, weil sich dieser nicht bewegte und Rehe nur bewegte Dinge sehen konnten. Als Reh wäre er jetzt tot gewesen.
Missmutig grübelnd kehrte er zu seinem Bau zurück, dachte darüber nach, was wirklich zu ihm passte. Ein Bär! Bären sind groß und gefährlich, Menschen haben Angst vor Bären. Außerdem zählen Bären in Deutschland nicht zum jagbaren Wild. Das ist es!
So beschloss er, von nun an ein Bär zu sein.
Er schubbelte sich tüchtig an einem verkohlten Baum, in den vor Kurzem noch der Blitz gefahren war, färbte sich so rundum schwarz, wie es sich für einen Schwarzbären geziemt. Dann tappste er zur Lichtung und sah dort einige Menschenkinder spielen. Er erhob sich auf die Hinterläufe und schwankte brummend auf die Kinder zu, die jetzt vor dem großen, gefährlichen Schwarzbär flüchten sollten.
Aber die Kinder flüchteten nicht. Sie hielten nur verblüfft inne, dann bogen sie sich vor Lachen. "Ein Fuchs, der Männchen macht, wie süß!", rief ein Mädchen, als er sich darum bemühte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dann packte ihn etwas von hinten; ein Junge, der eben im Gebüsch pinkeln war und den er zuvor nicht bemerkt hatte. Der Junge zog ihm einen Sack über den Kopf, dann wurde es dunkel.
Das nächste, was er sah, war gleißende Helligkeit, Scheinwerfer, laute Blasmusik, die in den Gehören schmerzte, hunderte Menschen, die ihn begafften. Er war in einem Zirkus gelandet, und alle wollten den schwarzen Fuchs sehen, der Männchen machend auf den Hinterläufen lief. Er starrte nur mit tränenden Augen in das grelle Licht, das Getöse drohte sein Gehör zu zerreißen, er bewegte sich nicht. Dann traf ihn das erste Wurfgeschoss eines enttäuschten Zuschauers, dem weitere Gegenstände folgten, mit denen er schmerzhaft Bekanntschaft machte. Wie mit der Peitsche des Dompteuers, der ihn nach der Vorstellung in eine enge, muffige Holzkiste sperrte und drohte, ihn verhungern zu lassen, wenn er nicht richtig mitspielte.
In der Nacht hörte er schabende Geräusche außen, nach wenigen Minuten zeigte sich ein Loch in der Kiste, das sich schnell so weit vergrößerte, dass er hindurchschlüpfen konnte. Der alte Dachs stand vor ihm, der mit seinen scharfen Krallen einen Fluchtweg für ihn geschafffen hatte. "Ständig muss man auf Dich aufpassen!", brummelte der Dachs, als er den Fuchs missbilligend hinter sich her nach Hause zog.
Am nächsten Morgen knabberte der Fuchs an einem Mäuseknöchelchen, lag dabei völlig untypisch auf dem Rücken, ließ sich die Sonne auf den Pelz brennen und sah dem ewigen Spiel der Wolken am Himmel zu.
"Eigentlich habe ich im Leben einiges erreicht", dachte er bei sich. "Seit meiner Geburt bin ich Fuchs, seit meiner Geburt kann ich perfekt Mäusen auflauern, hin und wieder mal ein leckeres Kitz reißen und den verfluchten Jägern perfekt aus dem Weg gehen. Und mein Mitbewohnerdachs mag mich und hilft mir, obwohl wir uns manchmal in die Köppe kriegen. In meinem Leben läuft alles so, wie es sein soll und natürlich; es geht nicht rückwärts, manchmal ist Stillstand angenehme, beruhigende Sicherheit."
Dacht's und nahm sich vor, dass ab heute alles anders bliebe.